Die Eichen
„Nur noch zwei Millimeter!“, sage ich. Ich ziehe und zerre und schiebe. Es könnten genauso gut 2 Meilen sein. Wir waren noch am Wachsen und es würde eine Weile dauern, bis sich unsere Wurzeln endlich gefunden haben. Wir trafen uns als Keimlinge und wussten sofort, dass wir Freunde fürs Leben waren. So standen wir da, Seite an Seite, hoch auf einem Hügel, der über die umliegenden Felder und Wiesen wacht. Ich schaue sie an und seufze. Eines Tages, wenn wir reifer sind, werden wir diesen Moment erleben.
Die Jahreszeiten kamen und gingen, Generationen von Vögeln nisteten in unseren Kronen und Liebespaare schnitzten Herzen in unsere Rinde. Wir kannten Freude, sogar Traurigkeit, aber vor allem kannten wir die Hoffnung. Also haben wir gewartet. Eichen können bis zu 1000 Jahre alt werden und wir waren noch jung und wild.
Eines späten Morgens, als wir Schmetterlinge beobachteten, die Honigbienen von Sommerblüte zu Sommerblüte um die Wette jagten, spürten wir eine starke Erregung. Ich sah sie an, sie sah mich an und wir zuckten zusammen. Es geschah! Unsere Wurzeln berührten sich zum ersten Mal. Es war wie ein Blitz! Wie Feuer! Wir schlossen die Augen und ließen unsere Wurzeln sich umschlingen. Jetzt konnten wir uns für immer aneinander festhalten. Ein Versprechen der Liebe für alle Zeiten. Der stärkste Wind hatte keine Chance. Das ist es, worum es im Leben einer Eiche geht! Juhuu! Wir lebten wie im Rausch! Wir hatten immer geschworen, dass wir auf einander warten würden, egal was passiert, und das hat unsere Liebe besiegelt!
Weitere 250 Jahre vergingen und wir waren mit dem Leben zufrieden. Was brauchten wir noch? Wir waren glücklich. Die wenigen Menschen, die vorbeikamen, bewunderten uns und einige malten sogar Porträts von uns. Ja, das Leben war schön.
Der Tag war noch dunkel, als ich die Stimmen hörte, die näher kamen. Die kleine Gruppe klang aufgeregt und zeigte auf uns. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Wir waren beide jetzt wach und spürten, dass etwas nicht stimmte. Einer der Männer lief auf uns zu, schlug auf unsere Stämme ein und fuchtelte mit seinen Armen herum wie ein Verrückter. Seine Begleiter gingen den Hügel hinauf und legten etwas auf den Boden. Inzwischen waren wir beunruhigt. „Diese Eiche gehört uns! Für Tische und Stühle!“. Ich beobachtete, wie sie die scharfen Zähne einer Baumsäge auf ihren Stamm setzten. „Nimm mich, nimm mich“, schrie ich, aber leider sprechen die Menschen nicht die Sprache der Bäume. Es ist zu schrecklich für mich, um darüber zu reden. Wie sie sie brutal angegriffen haben. Ich… ich kann nicht… ich werde nicht ins Detail gehen.
Ihre Wurzeln hielten an meinen fest – mit aller Macht – und ich hielt sie mit meiner ganzen Kraft. Ich gab ihr mein Wort, dass ich ihr eines Tages folgen würde. „Warte auf mich auf der anderen Seite“, schrie ich und meine Äste hoben sich vor Kummer. Die Morgensonne verschwand an diesem Tag hinter einer dunklen, bedrohlichen Wolke und die Welt – meine Welt – stand still.
Das war vor 75 Jahren. Es fühlt sich immer noch wie gestern an. Die Jahreszeiten kommen und gehen, unsere Wurzeln bleiben miteinander verschlungen, als ob sie noch hier wäre. Und das lässt mich hoffen. Das ist eine Sache, die wir Eichen kennen. Hoffnung. „Ich werde auf dich warten“, höre ich sie sagen.
Habe ich euch erzählt, dass ich ein kleines Licht sehen kann, wenn ich auf die andere Seite hinaufblicke?