Der Bus
Normalerweise rede ich nicht darüber, was bei der Arbeit so vor sich geht. Was ziemlich überraschend ist, wenn man bedenkt, dass niemand weiß, dass ich überhaupt reden, denken oder fühlen kann. Aber ich kann es. Die Leute sehen mich nur als ein paar Tonnen kaltes Metall auf 4 Rädern – etwas, in das sie ein- und aussteigen, um durch die Stadt zu fahren.
Meine Urgroßmutter war eine Kutsche, von zwei Pferden gezogen. Ich bin ein Bus, es liegt also in der Familie. Ich habe meine Stammgäste, einige fahren zur Arbeit, andere fahren mit mir rum, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Alte Damen, kleine Kinder, Obdachlose, Angestellte, im Grunde eine zufällige Vielfalt der Gesellschaft. Sie sitzen in mir, manche schreiben dumme Sachen auf meine Sitze, andere stehen in den Gängen. Niemand hat mir jedoch jemals Aufmerksamkeit geschenkt. Ich weiß das mit Sicherheit, denn ich kann Gedanken lesen. Nicht allzu viele Busse können das, aber ich schätze man könnte sagen, ich habe diese besondere Gabe.
Es ist mehr unterhaltsam als nützlich. Du wärst erstaunt über die Gedanken, die ich gelesen habe. Die meisten sind langweilig, Einkaufslisten oder Dinge,die man tun will – aber andere hauen mich einfach um. Wie der Typ, der aussah als hätte er Nägel zum Frühstück verspeist. Dabei zitierte er Liebesgedichte in seinem Kopf! Oder die Oma mit ihrer schamlosen Fantasie über den Busfahrer! Das sind Highlights in einem ansonsten ziemlich vorhersehbaren Leben. Die gleiche Route, die gleichen Fahrer, alles beim Alten.
Bis zu dem Tage, als zwei Menschen sich zufällig in der dritten Reihe trafen, Plätze 9 und 10. Die hatte ich vorher noch nie gesehen. Zuerst war es nur ein Funke, aber als sich ihre Augentrafen, begann das Feuerwerk.
Da merkte ich, dass ich auch Herzen lesen konnte. Ich habe ihre Gedanken gescannt. Es war für mich erschütternd. Ihre Herzen schrien ja, ihr Verstand sagte nein. Sie waren beide vergeben. Sie lebten an verschiedenen Orten.
Ich hätte ihnen so gerne geholfen. Es war eine Shakespeare-Tragödie auf Rädern. Ich spürte ihre Traurigkeit und ihren Schmerz. Sie durchliefen alle Emotionen, die die Liebe zu bieten hat, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich war schwindelig vor Verzweiflung und doch wusste ich, ich war nur der Beobachter! Ich hielt kurz inne. Ich war doch nur ein normaler Bus und trotzdem Teil von diesem unglaublichen Moment! Es geschah etwas in mir. Ich atmete tief und nachdenklich durch, bevor ich weitermachte. Das war Liebe in ihrer reinsten Form! Ich war ehrfürchtig.
Er stieg am Zoo aus. Sie fuhr bis zur Endstation.
Ich frage mich oft, wie ihre Geschichte verlaufen ist. Haben sie jemals ihren Traum verwirklicht? Oder waren es nur zwei Welten, die aneinander vorbeizogen?